Aufschwung in Ostdeutschland

Von der Stand- auf die Überholspur

Von Karl-Heinz Möller · 2014

Nach Jahren der Tristesse ist bei der Angleichung der Lebensverhältnisse und der Wirtschaftskraft eine Annäherung erreicht, die eine Balance zwischen Ost- und West verspricht. Langsam verschwinden die gravierenden ökonomischen Unterschiede, ohne das die Individualität der neuen Bundesländer leidet. Sie unterstreichen die Eigenständigkeit und liefern Substanz für Forschung, Produktion, Bildung und Kultur.

Die berühmte Basteibrücke in der Sächsischen Schweiz; Thema: Aufschwung in Ostdeutschland

Wunder sehen anders aus. Kaum jemand hat damit gerechnet, dass es so viele Jahre braucht, um die Lebens- und Arbeitsverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland anzugleichen. In Anbetracht der tatsächlichen Verhältnisse nach dem Mauerfall und des brutalen Zusammentreffens zweier gegensätzlicher Systeme grenzt es zumindest an Wunderwerk, wie dicht die Bundesländer 25 Jahre nach dem Mauerfall zusammengerückt sind. Über diesen Zeitraum hinweg wurde viel investiert. Intelligenz, Arbeit und Kapital - Frust, Schmerz, Pannen, Begeisterung, Erfolge und Pleiten inklusive.

Zahlen verdecken oft die menschlichen Dimensionen, die nahe an den Beteiligten liegen. Aber Sie heben das Ganze auf eine nüchterne berechenbare Plattform. Das allgemeinste und gängigste Wohlstandsmaß ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung, das im Osten 2009 rund 73 Prozent des Westniveaus erreichte. Um die Jahrtausendwende hatte der Wert erst gut zwei Drittel betragen und ist seither auf rund vier Fünftel gestiegen, ein nennenswerter Aufholprozess. Nach Überwindung der Krise von 2009 stagnierte die Angleichung, aber niemand sagt verlässlich voraus, ob es so weitergeht und wann Wohlstandseinheit oder absolute -gleichheit erreicht ist.

Aufschwung in Ostdeutschland: Betriebe holen bei der Produktivität auf

Die Bundeszentrale für politische Bildung bemisst 2009 den Rückstand der Produktivität in Bezug zur Arbeitsstunde noch bei 75 Prozent, bei der Betrachtung je Erwerbstätigen bei 78 Prozent des Wertes in den alten Bundesländern. Diese Werte haben sich danach deutlich positiv entwickelt. Andere, auf betrieblichen Angaben zu Umsatz und Beschäftigung gestützte Berechnungen mit dem iab-Betriebspanel, der derzeit größten repräsentative Betriebsumfrage via Infratest, kommen für das Jahr 2009 auf einen Produktivitätsrückstand von 74 Prozent. Bis 2013 waren immerhin achtzig Prozent des westdeutschen Wertes erreicht, Tendenz steigend.

Der Abstand zwischen Ost und West verringert sich immer mehr. Auch im ehemaligen Osten wächst die Wirtschaft und viele Firmen, die auf dem Weltmarkt mitmischen, haben hier ihren Standort. Viele abenteuerliche und wunderbare Details dieser Entwicklung und Entstehungsgeschichten sind es, die auch in dieser Beilage die Faszination erzeugen.Fakt ist: In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat es Ostdeutschland geschafft, seine Wirtschaft zu stärken und sein Wachstum zu fördern. „Innerhalb des Mittelstands gibt es kaum einen Rückstand für ostdeutsche Unternehmen“, sagt Klaus-Heiner Röhl, Experte für Strukturwandel vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Vorherrschend sind im Osten Klein- und Kleinstbetriebe mit unterdurchschnittlichen Produktivitäten und Löhnen: Arbeiten im Osten deutlich über die Hälfte (52Prozent) aller Beschäftigten in Betrieben unter 50 Mitarbeitern, sind es im Westen 43 Prozent. Großbetriebe mit über 1.000 Mitarbeitern sind im Osten selten (4,6 Prozent aller Betriebe), meist Universitäten, Verwaltungen und Handelsriesen, kaum Industrieunternehmen.

Faszination Osten sorgt bei Studenten für Euphorie

Von hoher Dynamik kann im Bereich Bildung die Rede sein. So sind die Hochschulen in Ostdeutschland gut aufgestellt. Einer der Gründe dafür ist die Standortattraktivität. „Anders als noch vor 15 Jahren erzeugt die Vorstellung, im Osten des Landes studieren zu sollen, bei jungen Leuten aus westdeutschen Regionen keine allergischen Reaktionen mehr“, sagt Professor Peer Pasternack von der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg. Der Osten des Landes präsentiert sich dabei als attraktiver Ort zum Studieren. Dresden, Leipzig oder Potsdam sind für die meisten Studienanfänger Orte, die es spielend mit Hamburg, Frankfurt und Köln aufnehmen.

Das passt gut zur hohen Nachfrage nach qualifizierten Mitarbeitern und Experten für moderne Arbeitsplätze stehen vor der Tür. In den verschiedensten Branchen wächst die Wirtschaft in Ostdeutschland: So ist Sachsen für seine Autoindustrie, den Maschinenbau und die Mikroelektronik bekannt. Jeder zweite in Europa hergestellte Chip stammt aus den sogenannten „Silicon Saxony“. Die Region zwischen Freiberg, Chemnitz und Dresden, ist Europas größter Mikroelektronikstandort. In Sachsen-Anhalt hat sich vor allem die Chemiebranche einen Namen gemacht, die Luftfahrtindustrie hat ihren Standort in Brandenburg gefunden, in Thüringen hat sich eine Metall- und Elektroindustrie gebildet und in Mecklenburg-Vorpommern wird der Tourismus immer wichtiger.

Bald ein viertel Jahrhundert nach der deutschen Einigung sind Fortschritte bei der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse sichtbar. Zurückhaltend analysiert die Bundesregierung in ihrem Jahresbericht 2013 zum Stand der Deutschen Einheit bereits im November 2013. Der materielle Wohlstand sei deutlich verbessert, die Lebensqualität gut, die Abwanderung gestoppt, Geburtenziffer und Lebenserwartung seien auf Westniveau. Dank moderner Infrastruktur, guter Verkehrswege, leistungsfähiger Energienetze und einer anerkannten Hochschul-, Wissenschafts- und Forschungslandschaft sei eine zunehmend auch wettbewerbsfähige Wirtschaft entstanden. In allen neuen Ländern habe der Aufbau der Industrie besonderes Gewicht, stark gefördert durch Unternehmen und unternehmensnahe Dienstleistungen, und sie seien innovationsfreudig für neue Perspektiven in Wertschöpfung und Beschäftigung. Auch der nicht-materielle Wohlstand in Bildung und Gesundheit, Freiheit und Mobilität, im Naturschutz und in der demokratischen Teilhabe habe sich deutlich verbessert. Allerdings sei die regionale Differenzierung nach guten und schlechten Lebensverhältnissen vergleichbar mit der in Westdeutschland. An die Stelle des Ost-West-Vergleichs soll immer mehr die Angleichung von vergleichbaren Regionen treten.

Ost West- oder Nord-Süd-Gefälle?

Nach Angaben der KfW Bankengruppe haben Unternehmen, Kommunen und private Bauherren seit 1991 rund 1,6 Billionen Euro in Ostdeutschland investiert. Insbesondere in den 1990er-Jahren boomte die Investitionstätigkeit aufgrund des immensen Nachholbedarfes und der umfangreichen Investitionshilfen. Allein die KfW hat nach eigenen Angaben in Ostdeutschland einschließlich Berlin von 1991 bis 2013 Förderkredite über 185 Milliarden Euro zugesagt.

Unterschiede bestehen fort, und die gibt es auch im Westen. Die wirtschaftlichen Erfolge sind gerade trotz der nachhaltigen Strukturschwächen eindrucksvoll. Nach Artikel 72 des Grundgesetzes sind gleichwertige Lebensverhältnisse Aufgabe staatlicher Politik, einheitlich oder gar gleich sollen sie nicht werden. Die Bundesbeauftragte für die neuen Länder, Iris Gleicke, betont, „die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Deutschland ist politisches Handlungsziel und Grundanliegen für die Arbeit der Bundesregierung.“ Neuerdings melden sich Stimmen, die eher ein „Nord-Süd-Gefälle“ als ein „Ost-West- Gefälle“ sehen. Der Süden, zu dem auch Thüringen und Sachsen gezählt werden, sei dem Rest der Republik davongeeilt.

Beim Tourismus in Ostdeutschland stehen die Zeichen eindeutig auf „Boom“. Immer mehr Deutsche wählen eines der fünf neuen Bundesländer als Ziel aus, wenn es um den Urlaub geht. Aber auch international kann der Osten Deutschlands als Reiseziel zunehmend punkten. Das geht aus einer Studie des Instituts dwif-Consulting hervor (Deutsches Wirtschaftswissenschaftliches Institut für Fremdenverkehr). Bis 2020 könnte der gesamte Fernreisetourismus um 36 Prozent steigen. Besonders im Trend liegen Städtereisen etwa nach Dresden, Görlitz, Leipzig, Weimar. Und immer lockt die Ostsee.

Mit der Wende geht auch eine Energiewende einher. Deutschland setzt immer mehr auf die erneuerbaren Energien. Besonders hervorgetan haben sich dabei die neuen Bundesländer, bei denen bereits zu ddr-Zeiten erste Projekte zur Erschließung erneuerbarer Energieträger existierten, beispielsweise durch Geothermiekraftwerke. Heute ist das Land Brandenburg im Ausbau der erneuerbaren Energien an der Spitze, gefolgt von Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. In diesen Bundesländern wachsen vor allem die Solar- und Windenergie deutlich stärker als in den anderen Regionen. Insgesamt beziehen die neuen Bundesländer durchschnittlich fast 30 Prozent ihres Stroms aus Erneuerbaren Energien. Der Ökostrom-Anteil im Westen Deutschlands beträgt hingegen nur 20 Prozent. Zahlreiche Ankündigungen großer Unternehmen, sich in diesem Umfeld in den neuen Bundesländern niederzulassen, deuten auf ein weiteres Wachstum. Mögen Dynamik und Faszination weiterhin nachhaltig sein!

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